Was bedeutet Wabi Sabi? Wiebke Katsoudas im Interview zur Unvollkommenheit
27/07/2022
Unvollkommenheit zieht sich durch unser gesamtes Universum. Brüche der Symmetrie, Störungen in homogenen Strukturen und Kopierfehler in der Biologie haben die Evolution vorangetrieben und einen unglaublichen Planeten mit einer Vielzahl an erstaunlichen Kreaturen entstehen lassen. Bereits Stephen Hawking erkannte: „Ohne Unvollkommenheit würden weder du noch ich existieren.“
Dieser Wert des Unvollkommenen findet aber nicht nur in der Wissenschaft seinen Platz. Auch in unserer täglichen Lebenswelt können wir eine Philosophie bringen, die uns weg vom endlosen Streben nach Perfektion führt.
By Native Gründerin Wiebke Katsoudas spricht mit uns über den Wabi Sabi Stil, die Werte, die dahinterstecken und wie wir damit unser Leben vereinfachen und entschleunigen können.
Was ist Wabi Sabi? Bedeutung und Ursprung der Philosophie
Das ästhetische Konzept aus Japan ist eng mit dem Zen-Buddhismus verknüpft und versucht dabei, uns von einem starren westlichen Schönheitsideal wegzuführen, das Künstlichkeit und Konsumismus idealisiert. ‘Wabi’ drückt dabei eine Bescheidenheit aus, die an Ärmlichkeit grenzt, sowie Unvollkommenheit und Einsamkeit. Es wird von ‘Sabi’ begleitet, einem Verwelken und Altern durch den Lauf der Zeit. Die Philosophie von Wabi Sabi verbindet diese beiden Teile in der Kunst, Schönheit im Einfachen und Vergänglichen zu erkennen und den Wert hinter Imperfektion zu sehen.
Das japanische Konzept bildete seine ersten Züge bereits im siebten Jahrhundert und wurde dann im Mittelalter verstärkt aufgegriffen. Seinen Namen gab ihm schließlich im 16. Jahrhundert der japanische Zen-Mönch Sen no Rikyū. Das ästhetische Konzept zieht sich dabei durch Architektur, verschiedene Kunstformen wie japanische Gärten, die traditionelle Gartenkunst Bonsai, Keramik und die traditionelle Tee-Zeremonie Japans.
Dabei wird stets der Natur ihre Schönheit zugestanden. Westliche Künstlichkeit wird abgelehnt und die Vergänglichkeit von Pflanzen, Gegenständen und Kunstwerken wird akzeptiert und sogar willkommen geheißen. So zeigen etwa traditionelle Teeschalen Risse und andere Imperfektionen, die beim Erhitzen der Keramik absichtlich entstanden sind.
Heute findet sich die Wabi Sabi Philosophie nicht nur in Japan, sondern auch in westlichen Kulturen wieder. Unsere hektische Lebensweise, geprägt von unreflektiertem Massenkonsum, stößt auf immer mehr Widerspruch und das Bedürfnis, unser Leben zu entschleunigen und simpler zu gestalten kommt auf. Dabei findet Wabi Sabi seinen Weg in unsere Häuser und Wohnungen, denn gerade hier sehnen sich viele nach Ruhe, natürlicher Schlichtheit und Authentizität.
Rohe Schönheit: Wohnzimmerästhetik mit Wabi Sabi Elementen
Die Lehre der Schönheit des Unvollkommenen
Wabi Sabi beim Wohnen macht sich nun in Verbindung mit Purismus und Minimalismus bemerkbar. Weniger ist mehr – ein Grundsatz, der sich durch die Einrichtungstrends zieht. By Native Gründerin Wiebke Katsoudas bezeichnet Wabi Sabi dabei als eine Art „unvollkommener Purismus“. Denn während Purismus und Minimalismus sich der Überreizung des Massenkonsums entgegenstellen, streben sie doch nach Perfektion und idealisieren eine künstliche Schönheit. Wabi Sabi akzeptiert das, was sonst oft als Makel gilt: Patina, kleine Fehler, Spuren der Zeit. Sie werden nicht nur toleriert, sondern wertgeschätzt. Katsoudas betont dabei, dass es sich bei Wabi Sabi nicht nur um einen Wohntrend handelt, sondern um eine „Philosophie und Lebenseinstellung“, die unser gesamtes Leben beeinflussen kann.
Auch mit dem skandinavischen Hygge sieht die By Native Gründerin Gemeinsamkeiten. Wie bei Wabi Sabi handelt es sich hierbei um eine Denkweise, die gewisse Werte in den Mittelpunkt stellt, wie Naturverbundenheit, die Verwendung natürlicher sowie schlichter Materialien und Produkte. Gegenstände mit Geschichte und Altersspuren werden in beiden Philosophien geschätzt, sowie Qualität, Langlebigkeit und Komfort.
Die Wabi Sabi Definition – über die Grenzen Japans hinaus
Genau diese Werte und ihre Verkörperung im Alltag werden mittlerweile auch außerhalb seines Ursprungslandes geschätzt. Katsoudas betont: „Wabi Sabi hat zwar seine Wurzeln in Japan, aber ich bin mir sicher, dass es überall erfahr- und kreierbar ist, wo Einfachheit, Authentizität und Natürlichkeit zusammenwirken.“
Seine Präsenz im Wohnbereich zeigt Wabi Sabi somit durch den respektvollen Umgang mit qualitativ hochwertigen Möbeln und Gegenständen, sowie ihre reflektierte und bewusste Auswahl. Ob von Generation zu Generation weitervererbt oder mit Bedacht ausgewählt, die Dinge, mit denen wir uns umgeben, sollen nicht unsere eigenen vier Wände überfüllen, sondern eine Geschichte erzählen. So bringen wir nicht nur gewollte Unvollkommenheit in unser Heim, sondern mit ihr auch Charakter und ein Ambiente, in dem wir uns wohlfühlen.
Beton und warmes Holz: Minimalistisches Schlafzimmer in Japan
Photo credit: Joseph Albanese
Wabi Sabi, Meditation und unsere Welt
Möbel und Accessoires perfekt imperfekt zu gestalten bedeutet auch, mit den Mängeln der Zeit zu arbeiten. Kaputtes wird repariert und bekommt so die Chance, etwas Altvertrautes und gleichzeitig etwas Erfrischend-neues zu sein. Katsoudas zufolge wird Wabi Sabi somit zum „Gegenentwurf zur seelenlosen Konsum- und Wegwerfgesellschaft“. Hat ein Gegenstand allem Anschein nach ausgedient, wird er nicht einfach entsorgt, sondern repariert. So wird ihm neues Leben eingehaucht und er bekommt eine Würde, die sich ein neuer Gegenstand erst mit der Zeit verdienen muss.
Die By Native Gründerin betont, dass Wabi Sabi uns ermöglicht, die Perspektive zu wechseln. Heutzutage streben wir stets nach Perfektion, dem höchsten Maß an Produktivität und Makellosigkeit. Wabi Sabi kann uns lehren, diese Werte zu hinterfragen und somit unser Leben langsamer und bedachter zu leben. In diesem Sinne ist auch Meditation eng mit der Philosophie verbunden, denn auch durch sie sollen wir bewusster leben lernen.
Entschleunigung und ein reflektierter Lebensstil würden Katsoudas zufolge dabei nicht nur uns, sondern auch unserer Welt weiterhelfen. Sie stellt die Frage in den Raum: „Wie viel weniger verschwenderisch und freundlicher wäre unsere moderne westliche Gesellschaft, wenn wir die Idee der Vergänglichkeit annehmen und Unvollkommenheit nicht nur akzeptieren, sondern feiern würden?“
Sie betont, dass uns Wabi Sabi und seine uralten Weisheiten dabei helfen können, Lösungen für die negativen Folgen unseres Massenkonsums zu finden. Mit Wabi Sabi können wir die Welt anders sehen und verstehen und uns wegkehren vom endlosen Materialismus, der unseren Planeten schwerwiegend schädigt und verändert. Somit können wir ein Zeichen für Nachhaltigkeit setzen und Verantwortung übernehmen.
Und nicht nur die Weisheiten, die die Wabi Sabi Philosophie mit sich bringt, sind der Rede wert. Auch der Aspekt des Handwerks darf keineswegs zu kurz kommen, findet Katsoudas. „Wabi Sabi bedeutet auch immer handwerklich hergestellte Stücke“, lässt sie uns wissen. Es kommen ohne Frage auch heutzutage noch traditionelle Handwerkskünste ins Spiel, die aus Materialien wie Massivholz oder auch Naturfasern, einzigartige und nicht zu wiederholende Produkte entstehen lassen. Der Wert eines solchen Produktes ist aufgrund seiner Einzigartigkeit ungleich höher zu bemessen - im Vergleich zu einem industriell gefertigten Massenprodukt. Nicht zuletzt wegen einer unvergleichlichen Geschichte, die sich allein schon auf die Herstellungsart bezieht.
Vollkommen unvollkommen
Das Welken der Kirschblüte, mit Gold oder Silber reparierte Risse in einer Keramikschüssel („Kintsugi“), ein altes, geerbtes Möbelstück – Wabi Sabi ist in all diesen Dingen zu finden. Die schlichte und bitter-süße Schönheit der Vergänglichkeit spiegelt sich wider in der Hervorhebung der Makel, in den Spuren der Zeit. So wird durch das Lackieren mit Gold oder Silber besonderes Augenmerk auf die Risse in der Keramik gelegt, die Vergänglichkeit wird als der schönste Teil dargestellt. Die Kirschblüte ist gerade darum so ästhetisch, weil sie nicht immer blüht, sondern auf die kurze Zeit der Blüte die des Welkens folgt. Und das alte Möbelstück wird uns durch seine Geschichte und Beständigkeit vertraut. Es war für die Generation vor uns da, so wie es jetzt für uns da ist.
Alles ist unvollkommen, und genau das macht unsere Welt besonders. Fehler, Makel, Spuren der Zeit sollten nicht beseitigt werden, sondern geschätzt und bewundert. Denn wie bereits Stephen Hawking betonte, würden wir alle ohne diese Unvollkommenheit gar nicht existieren.
Alte, ibizenkische Markttaschen werden hier liebevoll in Szene gesetzt.
Photo credit: Monique Ibiza